Kriminelle Zuwanderer Die Nacht, in der die Stimmung in Görlitz kippte

Von
Vanessa Nischik
Volontärin Nachrichten & Gesellschaft / Axel Springer Academy

Veröffentlicht am 28.07.2023 | Lesedauer: 8 Minuten

Ausschreitungen von Migranten bei einer Abifeier in Görlitz sorgten bundesweit für Aufsehen. Wut und Verunsicherung in der Stadt sind groß, der Bürgermeister versucht den Spagat zwischen nötiger Härte und Humanität. Und möglicherweise ist der Fall nicht so klar wie gedacht.

Nach den Ausschreitungen wurde die Polizeipräsenz in der Görlitzer Innenstadt deutlich erhöht: Die Teilnehmerzahl der "Montagsspaziergänge" hat sich teils verfünffacht
Quelle: Vanessa Nischik

Der vergangene Montag, kurz vor Sonnenuntergang auf dem Postplatz von Görlitz, der östlichsten Stadt der Republik, direkt an der polnischen Grenze gelegen. Flaggen rechter Gruppierungen wehen im lauen Sommerwind, drum herum haben sich ein paar Trommler formiert, ihre monotonen Schläge sind über viele Straßenzüge zu hören. Rund 800 Menschen sind zu diesem sogenannten "Montagsspaziergang" gekommen - weil sie nicht einverstanden sind mit dem, was passiert im Land.

Noch vor ein paar Wochen waren es im Schnitt 200, aber dann ist etwas passiert in Görlitz, das Wut entfacht hat. In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli sollen Migranten eine Abifeier angegriffen und mehrere junge Leute derart verletzt haben, dass diese im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Ein Video, das in den sozialen Medien hunderttausendfach angeklickt wurde, zeigt, wie mehrere junge Männer vor einer Disko wüten und herumliegende Glasflaschen auf den Eingangsbereich werfen. Ein Türsteher versucht zu verhindern, dass die Migranten in den Club eindringen. Die "Bild"-Zeitung titelte: "20 Männer stürmen Schulfeier - Syrische und türkische Tatverdächtige festgenommen". Und im "Focus" hieß es: "Nach Angriff auf Abi-Feier ‚schlägt Stimmung gegen Flüchtlinge um' ".

Der Vorfall wurde zum Symbol für gescheiterte Integration, für Gewaltexzesse von Ausländern - und zu einem Grund, jetzt erst recht auf die Straße zu gehen. Was war passiert? Und wie geht Görlitz nun mit der Angelegenheit um?

Was die genauen Abläufe der Tat angeht, so soll eine achtköpfige Ermittlungsgruppe der Görlitzer Polizei für Aufklärung sorgen. Klar ist bislang: Am Rande der Innenstadt hatten Abiturienten im Club "L2" an jenem Freitag ihren Abschluss gefeiert. Ab 22 Uhr war die Party öffentlich zugänglich, so auch für eine Gruppe von zwölf bis 20 Migranten. Die Männer im Alter von 19 bis 25 Jahren sollen zunächst andere Gäste beleidigt haben, dann flogen Glasflaschen. Mit abgebrochenen Gläsern sollen die Täter auf die Partygäste losgegangen sein. Fünf wurden verletzt, drei davon wurden in eine Klinik gebracht. Sachschaden: 3500 Euro.

Gegen halb vier am frühen Samstagmorgen trafen alarmierte Polizisten in der Nähe des "L2" auf die mutmaßlichen Täter - syrische, türkische, irakische sowie libanesische Staatsangehörige. Zehn Männer wurden vorläufig festgenommen, fünf kamen in Untersuchungshaft. Aktuell befinden sich noch drei Syrer hinter Gittern; zwei Türken kamen unter Auflagen frei. Der Vorwurf: besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs.

Wie WELT erfuhr, arbeitete einer der inhaftierten Syrer in einem Döner-Imbiss in Görlitz, ein anderer in einem Barber-Shop. Sind diese jungen Migranten doch nicht so integriert, wie es schien? Was ist schiefgelaufen?

Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU), 55, fordert eine Obergrenze für den Zuzug von Migranten
Quelle: pa/photothek/Florian Gaertner

Fragen wie diese treiben Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU) um, selbst ein Mann mit Migrationshintergrund, geboren in Rumänien, erst mit 23 Jahren nach Deutschland gekommen. Nach Görlitz, als Trompeter in der Philharmonie. Heute ist er 55 und seit vier Jahren im Amt. Seit langem versucht er sich im Spagat zwischen Kritik an der deutschen Migrationspolitik und der nötigen Menschlichkeit. Bereits kurz nach der Tat rief er Vertreter der Polizei, Staatsanwaltschaft und Türsteher des "L2" zu einem Sicherheitstreffen ins Rathaus, diskutierte mit ihnen über die Lage und mögliche Maßnahmen.

"Wer sich strafbar macht, hat hier nichts zu suchen", sagte Ursu bei einer Bürgersprechstunde am Görlitzer Marienplatz, zu der auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer angereist war. Er verweist aber auch auf die Zahlen, die den Diskussionen nach jener Julinacht den Wind aus den Segeln nehmen könnten: Die polizeiliche Kriminalstatistik für die Direktionen Görlitz und Bautzen erfasst für das letzte Jahr 6562 Straftaten von Zuwanderern, begangen von 5890 Tatverdächtigen. Betrachtet man schlicht Straftaten ohne ausländerrechtliche Verstöße - also etwa illegale Einreisen -, sind es 946 - und damit 396 weniger als in 2021. Ein rückläufiger Trend also. Dennoch weiß Ursu natürlich um die Stimmung in seiner Stadt.

Der Alltag der Görlitzer scheint sich seither verändert zu haben. Es ist still geworden in der Stadt. Die öffentlichen Plätze sind nach 22 Uhr fast menschenleer, nur vereinzelt sitzen Leute noch in kleinen Restaurants oder führen ihre Hunde aus.

Die Innenstadt scheint in den Abendstunden wie leergefegt
Quelle: Vanessa Nischik

Auch auf der sonst belebten Altstadtbrücke, die über die Neiße nach Polen führt, sind nur wenige Menschen unterwegs
Quelle: Vanessa Nischik

Vor den Ereignissen im "L2" sei das anders gewesen. "Selbst am Wochenende ist hier jetzt tote Hose", sagt eine Hotelmitarbeiterin. Der Kellner eines kleinen Restaurants in einer sonst belebten Straße klagt darüber, dass seit jener Julinacht weniger Gäste kommen würden. Die Videos im Netz würden den Leuten Angst machen. Wenige Tage nach den Angriffen im "L2" teilten die "Freien Sachsen" ein Video, auf dem angeblich eine "Araber-Gang" einen Deutschen in der Innenstadt zusammenschlägt. Marcel Malchow, Sprecher der Polizei Görlitz, erklärt dazu, es handele sich dabei um einen Raub durch polnische Staatsangehörige.

Bereits 2019 wäre in Görlitz beinahe der erste AfD-Oberbürgermeister in Deutschland gewählt worden: Sebastian Wippel, ehemaliger Polizist. Im ersten Wahlgang erhielt er 36,4 Prozent der Stimmen, Ursu kam auf 30,3. Dann zogen sich die Grünen mit 27,9 und die Linke mit 5,5 Prozent zurück. Die Stichwahl gewann der Unionskandidat hauchdünn. Wippel ist aber weiter präsent, hielt auch auf der ersten sogenannten Montagsdemo nach den Ausschreitungen eine Rede, erntete viel Applaus, schürte Panik. Er wandte sich direkt an die Migranten: "Ihr wart Gäste. Ihr habt euer Aufenthaltsrecht verwirkt!" Die Sicherheit der Kinder sei gefährdet. Die Männer hätten nichts anderes vorgehabt, "als Mädels anzugrabschen". Einer habe versucht, ein Mädchen gegen dessen Willen zu küssen. Polizeisprecher Malchow kann diese Vorfälle nicht bestätigen.

"Die Werte bei den Prognosen der AfD sind weiter erschreckend hoch. Jetzt ist es Aufgabe der anderen Parteien, Vertrauen zurückzugewinnen", sagt Ursu. Er spricht jetzt über das Dorf Hirschfelde mit seinen 100 Einwohnern im Landkreis Görlitz, in dem sich 150 Asylbewerber niederlassen sollten. Es gab wütende Proteste. "Es kann nicht sein, dass mehr Asylbewerber im Dorf leben, als Einheimische", sagt Ursu. Er kritisiert die Bundespolitik: Die Leute verstünden nicht mehr, was politisch in Berlin passiere.

Wenn es nach ihm ginge, "würde ich keine Asylbewerber mehr aufnehmen. Nicht, weil ich gegen Migranten bin, sondern weil unsere Ausländerquote so schon ziemlich hoch ist." Von 57.338 Görlitzern sind 8.684 nicht deutsch - ein Anteil von 15,1 Prozent. Zudem könne die notwendige Integrationsinfrastruktur, also eine dezentrale Unterbringung, Sprachkurse, Schul- und Kitaplätze, nicht genauso schnell mitwachsen, so Ursu. Der Oberbürgermeister will eine Obergrenze. Notfalls müssten Gesetze verschärft werden. Gleichwohl betont er den Arbeitskräftemangel etwa in der Gastronomie oder Pflege und warnt davor, alle Schutzsuchenden unter Generalverdacht zu stellen.

Es ist kompliziert.

Die "Montagsspaziergänge" in der Innenstadt finden seit Beginn der Corona-Pandemie statt, hier verschmilzt die Unzufriedenheit der breiten Bevölkerung mit ideologischer Propaganda und Verschwörungstheorien. Angeführt wird die Bewegung von Frank Liske, Vorsitzender des "Aktionsbündnisses sächsischer Unternehmer", einst AfD-Mitglied im Görlitzer Kreistag.

Auf den Montagsdemos protestieren besorgte Bürger zusammen mit AfD-Mitgliedern und Anhängern rechtsextremer Gruppierungen
Quelle: Vanessa Nischik

Die Polizei sichert eine kleine Gruppe von Gegendemonstranten ab
Quelle: Vanessa Nischik

In der Masse tummeln sich Mitglieder der vom Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen als rechtsextremistisch eingestuften "Freien Sachsen" und Anhänger der "Identitären Bewegung". An diesem Montag tragen zwei Männer ein Banner wie ein Schutzschild vor sich her. Darauf steht: "Heute noch tolerant! Morgen dann Fremde im eigenen Land!"

Immer wieder werden "die da oben" angeprangert: Täglich würden sie "Gesetze brechen", nur über Hitze- und Coronatote sprechen, statt über solche durch Migranten-Gewalt, meint einer der Redner. Ein paar Männer um die 50 echauffieren sich darüber, dass ernsthaft diskutiert werde, ob es obszön ist, wenn Frauen Eis essen. Das sei doch Wahnsinn. "Die sollen sich mal lieber mit den Problemen an den Grenzen befassen", schimpft einer von ihnen. Die anderen nicken zustimmend.

Grundsätzlich würden die Proteste ruhig verlaufen, sagt Malchow. Einzig Mitte Juli stiegen zwei Jugendliche auf ein Gebäude am Postplatz, zündeten Pyrotechnik und rollten ein Banner mit der Aufschrift "Eure Integration ist eine Lüge: #Remigration jetzt!" aus. Der Polizeisprecher war jahrelang Dienstgruppenführer, hat die Montagsdemos von Anfang an miterlebt. Die Arbeit der Polizei in und um Görlitz habe sich in den vergangenen Jahren verändert: "Das Demonstrationsgeschehen hat seither zugenommen. Während der Pandemie waren wir in der Situation, Verordnungen durchzusetzen, die sich fortlaufend an die aktuellen Erkenntnisse und den Verlauf angepasst haben."

Der Protest zieht an diesem Montagabend wie üblich auch durch die Berliner Straße, einer hübschen Flaniermeile. Jamal Jahid und seine Brüder betreiben hier einen Döner-Imbiss. Seit zwölf Jahren arbeitet Jahid hier. Seit der Eskalation im "L2" sei die Stimmung gegenüber Ausländern gekippt. Erst in der letzten Woche randalierte ein junger Mann vor ihrem Imbiss. Die Videoaufnahmen hat er bei Facebook veröffentlicht. Dort distanzieren sich die syrischen Brüder von der Kriminalität ihrer Landsleute. Sie haben aber auch Angst vor den Rechtsextremen, überlegen wegzuziehen, wenn die Stimmung gegen Ausländer so bleibe.

Dem Syrer Jamal Jahid (l.) und seinem Bruder macht die Hetze gegen Ausländer Angst
Quelle: Vanessa Nischik

Unbekannte warfen Steine gegen das Schaufenster des Barber-Shops, in dem einer der inhaftierten Syrer gearbeitet hat
Quelle: Vanessa Nischik

Wenige Straßen weiter liegt der Barber-Shop, in dem einer der inhaftierten Syrer bis vor kurzem arbeitete. Der Inhaber kündigte ihm umgehend, doch dieser Schritt schützte ihn nicht vor dem Hass, der ihm seitdem entgegenschlägt. Unbekannte warfen mit Steinen auf die Schaufensterscheibe seines Ladens. "Ich habe nichts mit den Angriffen zu tun, trotzdem denken alle, ich wäre dabei gewesen, weil mein Kollege dort war", klagt ein Mitarbeiter. Der Mann wirkt eingeschüchtert, beäugt jeden Kunden genau, der den Laden betritt.

Einer von ihnen ist ein junger Mann Mitte 20, der in der Nacht auf den 8. Juni im "L2" war und seinen Blick auf die Dinge schon als Zeuge der Polizei erzählte. Er bittet darum, seinen Namen nicht in der Zeitung zu nennen - er hat Angst vor Konsequenzen, Görlitz sei ja doch sein Dorf. Dass die Migranten andere Gäste schlugen, sie mit Glasflaschen angriffen, bestreitet er nicht.

"Es muss aber endlich darüber gesprochen werden, was vor all dem passiert ist, was auf dem Videoschnipsel im Internet zu sehen ist", sagt er. Im Club seien Rechtsextreme aus der Umgebung gewesen, die gestichelt und die Migranten beleidigt hätten, erzählt er.

Auch für Polizeisprecher Malchow ist die Sache noch nicht abschließend geklärt. Im Club müsse irgendwas vorgefallen sein, dass es derart eskaliert sei, sagt er. Die Ermittlungsgruppe, so heißt es aus Behördenkreisen, ist gerade dabei, Videos aus dem Innenraum auszuwerten. Außerdem werden weitere Zeugen befragt. Gut möglich, dass die Sache in Görlitz noch komplizierter ist als gedacht.


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